19. Dezember 2012

Offener Brief an Frau Leutheusser-Schnarrenberger

Interview in der Zeitung Die WELT vom 07.12.2012 mit der Bundesjustizministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger

Sehr geehrte Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger,

unsere letzte Begegnung anlässlich der Verleihung des Arnold-Freymuth-Preises an mich am 25.11.2012 in Hamm und die dort von Ihnen gehaltene Rede sind mir in angenehmer Erinnerung. Aufgrund unseres Gespräches am Rande der Veranstaltung und Ihren Ausführungen in Ihrer Festrede war ich der Annahme, dass Sie meine dargestellten Punkte in Bezug auf die Notwendigkeit eines Deradikalisierungsansatzes, wie ihn EXIT-Deutschland umsetzt, nachvollziehen konnten und inhaltlich unterstützen.

Nun habe ich aber mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass Sie in dem von der Zeitung Die Welt veröffentlichten Interview: “Ein Verbot der NPD wäre kein Erfolg” ein „gemeinsames Exit-Programm von Bund und Ländern schaffen“ wollen. Dieses sogenannte Exit-Programm, so werden Sie weiter in der Welt zitiert, soll: „beispielsweise vom Bundeskriminalamt koordiniert“ werden. Diese Forderung und die von Ihnen vorgeschlagene koordinative Konzeption eines solchen Programmes bergen aber strukturelle, sicherheitsrelevante sowie sachinhaltliche Probleme. Darüber hinaus implizieren Sie — über die begriffliche Assoziation „EXIT-Programm“ – ein defizitäres Bild der Arbeit und Vernetzung von EXIT-Deutschland, das nicht der Realität entspricht. Wenngleich ich es zu schätzen weiß, dass Sie den praktischen Wert der Ausstiegsarbeit in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus zu würdigen wissen, habe ich mit Ihren Ausführungen erhebliche Probleme. Sie nehmen keine Differenzierung zwischen nichtstaatlicher und staatlicher Ausstiegsarbeit vor bzw. verweisen noch nicht einmal darauf, dass es eben diese gibt. Der Eindruck, der damit erzeugt wird, ist, dass es aktuell keine kompetenten Träger im Bereich der Ausstiegsarbeit gibt und dieser aus diesem Grund neu strukturiert werden müsse. Ein Fehlschluss!

EXIT-Deutschland bietet seit nunmehr 12 Jahren für Aussteiger aus der rechtsradikalen Szene Hilfe an. 12 Jahre kontinuierliche Arbeit, in denen der Träger Erfahrungswerte sammeln konnte, die mit Blick auf die Zielgruppe kein anderer Träger in der Bundesrepublik vorweisen kann. Mit mehr als 434 begleiteten Ausstiegen seit 2001 (BTS-DRS 17/9119) liegt laut Bundesregierung die Zahl der Ausstiegsbegleitungen durch EXIT-Deutschland deutlich über dem Schnitt des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das als einziges Ausstiegsprogramm neben EXIT-Deutschland einen bundesweiten Ansatz umsetzt. Zum Vergleich: 2010/2011 wurden durch EXIT-Deutschland 114 Personen in Ihrem Ausstieg begleitet, das Bundesamt für Verfassungsschutz betreute im selben Zeitraum 40 Personen.

Auch auf fachlicher Ebene erfährt die Arbeit von EXIT-Deutschland national wie auch international große Wertschätzung, wie Sie unserem Flyer, den ich Ihnen anlässlich der Preisverleihung am 25.11.2012 in Hamm überreichte, entnehmen können. In diesem Zusammenhang gibt es — um nur einige zu nennen — beispielhafte Forschungskooperationen im Bereich der Extremismusforschung und pädagogischen Arbeit mit den Universität Hamburg, Braunschweig, Göttingen, Frankfurt/Oder, Bielefeld, Rostock und Lübeck. Darüber hinaus wurden eine Vielzahl von Fachkonferenzen, Workshops und Diskussionsrunden durch EXIT-Deutschland umgesetzt oder begleitet. Im November dieses Jahres wurden wir für unser „Trojaner T-Shirt“ mit dem Politikaward – die renommierteste Auszeichnung für Arbeiten aus dem Bereich der politischen Kommunikation — ausgezeichnet. Eine vergleichbare Aktion zur Zielgruppenansprache hat es weltweit noch nicht gegeben. Überdies hinaus zeichnete die Europäische Kommission EXIT-Deutschland als Best-Practice Projekt im Bereich der sozialen Integration aus.

Grundsätzlich teilen Sie meine Ansicht, dass der Ausstiegsarbeit eine besondere Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus zukommen muss. Das zeigt nicht zuletzt der Fall Carsten S. aus Düsseldorf, der nach seinem nicht begleiteten Ausstieg nun Mitangeklagter im NSU-Prozess ist. Dieser Fall verdeutlicht, welche Dimension die Ausstiegsarbeit auf persönlicher wie auch sicherheitspolitischer Ebene haben kann und ist nur ein sehr prominentes Beispiel dafür. Aus der Praxis wissen wir, dass die Probleme und Handlungsnotwendigkeiten in diesem Bereich vielschichtig sind.

Inhaltlich und strukturell sehe ich den Handlungsbedarf schwerpunktmäßig jedoch anders gewichtet, wie ich Ihnen auch in unseren letzten Zusammenkünften mehrfach darzustellen versucht habe. Aus diesem Grund richte ich nachfolgende Fragen an Sie mit der freundlichen Bitte um Antwort:

1. Auf Grund welcher analytischen Grundlage kommen Sie zu der Erkenntnis, dass die Ausstiegsarbeit in Deutschland a) grundsätzlich neu strukturiert und b) staatlich koordiniert werden muss?

2. Welche Funktion hätte die seit 12 Jahren bestehende, bundesweit agierende Organisation EXIT-Deutschland in dem von Ihnen angedachten Konstrukt eines überregionalen Ausstiegsprogramms?

3. Aus welchem Grund gebrauchen Sie assoziativ das Label EXIT-Deutschland für Ihr Konstrukt?

4. Sind Ihnen die unterschiedlichen Aktivitäten im Bereich der staatlichen und nichtstaatlichen Ausstiegsarbeit und die damit verbundenen Evaluationen bekannt?

5. Wieso wird nicht auf die Erfahrungen eines interaktiven Ausstiegsnetzwerks wie EXIT-Deutschland, das auch staatliche Ansätze im Ausland berät, zurückgegriffen?

6. Warum wird seitens der Bundesregierung nicht an einem interaktiven Ausstiegsnetzwerk zwischen EXIT-Deutschland und staatlichen Stellen gearbeitet, wie es die Initiative EXIT-Deutschland schon mehrfach auch Ihnen vorgeschlagen hat?

7. Wieso soll die bürgergesellschaftliche Initiative EXIT-Deutschland, die auch vom stern und prominenten Persönlichkeiten unterstützt wird und erfolgreich ist, erstickt und aus Förderungen des Staates ausgeschlossen werden? Wieso soll eine elaborierte Erfahrung aus der Demokratie desintegriert und zerstört werden?

8. Inwiefern besteht ein Wirkungszusammenhang zwischen der Effizienz von Ausstiegsarbeit und der zentralen Koordination der Arbeit durch eine zentrale Bundesbehörde — administrative Vorgänge ausgeschlossen?

9. In welcher Weise würde die Führung eines bundeseinheitlichen, staatlichen -Ausstiegsprogramms gestaltet sein? Wie soll das BKA unter der Voraussetzung der Führung mit dem Legalitätsprinzip umgehen, da unweigerlich Erkenntnisse zu Straftaten auflaufen. Ist das Ziel des Ausstiegs das Geständnis und eine unweigerliche Bestrafung für z.B. geringe Delikte oder steht ein ideologisch-politischer Bruch und die Integration in die Demokratie im Vordergrund?

10. Wie sind Polizeibeamte darauf vorbereitet, und ist das im Ausbildungsprofil enthalten? Welche Qualitätsstandards gelten?

11. Wenn der Staat die Ausstiegsarbeit nach ihrer Konzeption zukünftig allein leisten wird, sollen das nicht die Verfassungschutzbehörden vollziehen, die nicht dem Legalitätsprinzip unterworfen sind? Was ist der Vorteil der Polizei?

12. Wie soll die Zusammenarbeit mit den Polizeidienststellen und Nachrichtendiensten gestaltet sein? Wie sollen gefahrenabwehrende Maßnahmen gestaltet werden, die schon jetzt nicht geleistet werden?

13. Wie sorgen das BKA und die Polizeien für die soziale Integration Aussteigender? Werden Sozialarbeiter eingestellt? Welche Betreuungskriterien gibt es, welche Standards werden geplant? Wie wird mit Minderjährigen durch die Beamten umgegangen, haben diese eine pädagogische Kompetenz?

14. Wie kompensieren die Polizeien das Misstrauen Ausstiegswilliger gegenüber staatlichen Sicherheitsbehörden?

15. Wie sichert der Staat, dass das Trennungsgebot zwischen Polizeien und Geheimdiensten eingehalten wird?

16. Wie wird gewährleistet, dass Aussteiger von Polizei und Verfassungsschutz nicht zu V-Leuten gepresst werden, wie bereits mehrfach geschehen?

17. Welche mediale Transparenz ist vorgesehen? EXIT-Deutschland betreibt eine offene Medienpolitik. Die Länderprogramme des Staates tun dies bisher nicht oder nur in geringem Umfang.

18. Wie soll die parlamentarische und öffentliche Kontrolle gesichert werden? Ist das zentralistisch-etatistische Aussteigerprogramm ein Geheim-Programm wie z.Z. im Bereich der Sicherheitsbehörden praktiziert? Wie wird die in die Szene gerichtete Aktivierungs- und Motivationsfunktion zu Ausstiegen organisiert? Wie wird am politischen und weltanschaulich-demokratischen Gehalt des Ausstiegs gearbeitet? Wann gilt in dieser Beziehung ein Ausstieg als beendet?

19. Welche Rolle soll die Justiz in einem rein staatlichen Ausstiegskonstrukt einnehmen, um die Fürsorgepflicht für die Schutzbefohlenen in Strafverfahren und im Zusammenhang mit dem Zeugenschutz einnehmen?

20. Wie ist der Vorschlag überhaupt mit dem Liberalitäts- und dem Subsidiaritätsgrundsatz der Demokratie zu vereinbaren?

Mit freundlichen Grüßen

Bernd Wagner

Diplom-Kriminalist
Gründer und Leiter EXIT-Deutschland