10. Oktober 2014

„Living Library“: Geschichten, die nur das Leben erzählen kann…

Als ich angesprochen wurde, ob ich an dem Projekt „Living Library“, welches vom internationalen „no hate speech movement“[i] veranstaltet wurde, teilnehmen möchte, konnte ich mir zuerst wenig über die Abläufe und die Ziele dessen vorstellen. Was sollte ich, als Aussteiger aus der rechtsextremistischen Szene in Deutschland beitragen, wenn Flüchtlinge, eine junge Muslimin, ein Menschenrechtsaktivist aus der Ukraine und viele andere aus ihren persönlichen Erfahrungen mit Diskriminierung berichten? War ich doch über Jahre selbst Täter, der nicht davor zurückschreckte Menschen allein wegen deren Herkunft, Religiosität oder etwaigen politischen Engagement abzuwerten.

Im Rahmen der Veröffentlichung des Berichtes über „Counteraction to manifestations of neo-Nazism“[ii] im Europarat, hatten die Mitglieder des COE, wie auch andere Gäste des Rates, die Möglichkeit, etwas über die individuelle Lebensgeschichte einiger Menschen, die ihnen als lebende Bücher zu Gesprächen bereitstanden, zu erfahren. Die Idee dieses Projektes scheint einfach, jedoch steckt es voller Überraschungen und verschiedener, meist sehr emotionaler Erfahrungen, welche die Betroffenen, jenen Menschen vermitteln, die sonst ausschließlich aus Medienberichten die leidvollen Geschichten nachvollziehen könnten. Wichtig hierbei war, dass diese, vielmals durch verallgemeinerte Stereotypen kategorisierten Ungehörten, hier ausschließlich über ihren Lebensweg berichten; und nicht, durch die Identifizierung mit einer Gruppe, der Individualität beraubt werden. Im Mittelpunkt stand demnach ein Leben, dass durch persönliche Hintergründe geprägt und eigene Entscheidungen und Wünsche beeinflusst wurde und wird. Doch waren es auch immer ideologische Denkfiguren und diskriminierende Gewalt, die einen weitreichenden Einfluss auf dieses Leben hatten und, soweit dies nicht zu verhindern ist, weiter haben werden.

Zwischen erschütternden Berichten über die Flucht eines damals Vierzehnjährigen aus dessen Heimat mit einem kleinen Boot über das Mittelmeer sowie dessen beschwerlichen Weg durch viele Stationen in Europa und dem schon jahrelangem Kampf eines Aktivisten, der für Frauenrechte eintritt, kam bei mir ein Schamgefühl auf, dass sich aus dem einstmaligen Unverständnis meinerseits speiste. Dies und die politische Ideologie, welche ich über Jahre hin verfolgte und die ich zu verbreiten suchte, schlossen jedoch Empathie für diese Personen aus oder relativierte sie in Kategorien und Scheinzusammenhänge, die mich selbst und meine Gruppe nicht als Täter, sondern als Opfer erschienen ließen. Diese Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses bestimmte unter anderem mein Selbstbild und lies die Realität ebenso wenig zu, wie die naive Vorstellung, dass die gesamte Welt — einer Verschwörung gleich — durch bestimmte Mächte kontrolliert werde. Den Apologeten der Montagsmahnwachen in Deutschland gleich, verhinderte die Selbstidentifizierung als „Truther“ das Engagement und die Hintergründe der Menschen zu verstehen, die nun neben mir als Bücher ihre Erfahrungen mitteilten. Geradezu stigmatisierte sie dies als Feindbilder, die es zu bekämpfen oder zumindest zu überzeugen galt.

Ist es gerechtfertigt, dass ein ehemaliger Täter mit dessen potenziellen Opfern nebeneinander in einem Projekt arbeitet, in dem es darum geht Vorurteile und Diskriminierung zu bekämpfen? Meine Antwort nach diesen Tagen in Strasbourg ist ein ja. Ja, weil es gerade auch der Bericht, der dem Europarat vorgestellt wurde, fordert, dass im Kampf gegen Neonazismus “the focus should be on prevention, through education and awareness raising.” Die Arbeit, die EXIT-Deutschland, wie auch die anderen Projekte, die in diesem Bericht betrachtet wurden, leisten, können mit ihren Erfahrungen und deren Engagement dazu beitragen, dass diese Ideologie besser verstanden werden kann und damit eine erfolgsversprechende Prävention und Intervention gegen menschenverachtende und diskriminierende Denkweisen und Akteure geleistet wird. Die wahren Opfer gilt es zu schützen, auch indem die Täter ihr Handeln verstehen und ihre eigene Vergangenheit kritisch reflektieren. Einzig kann ich in diesem Rahmen versuchen über die Denkmuster sowie die psychischen und gruppenbezogenen Dynamiken aufzuklären und damit zu erreichen, dass zukünftige Opfer von schmerzvollen Erfahrungen verschont bleiben.

Durch die Eindrücke, welche ich zudem durch die vielen Lebensgeschichten gewann, und auch die Probleme, die mir durch viele Aktivistinnen und Aktivisten vermittelt werden konnten — Menschen die in den verschiedensten Ländern, der immer weiter wachsenden Bedrohung durch neonazistisches und faschistoides Gedankengut gegenübersehen — haben mir wieder verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich dieser menschenverachtenden Ideologie schon in ihren Grundfesten entgegenzustellen. Dadurch kann nicht nur den Opfern geholfen werden, sondern auch die Grundlagen ihrer Leiderfahrungen — Menschen mit ähnlicher ideologischer Weltanschauung wie ich sie einmal hatte — könnten verhindert werden.

Ich möchte mich herzlichst bei allen Beteiligten dieses Projektes, wie auch den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die sich rund um die Erstellung des Berichts verdient gemacht haben, bedanken. Ich hoffe, es wird nicht das letzte Projekt gleicher Art sein, dass die versucht Eindrücke, welche Verbrechen und Diskriminierung aus Hass und der neonazistischen und faschistischen Ideologie auf das Leben von Menschen haben, auch anderen aufzuzeigen versucht. Aufklärung, kritische Reflexion und aktives Engagement bilden die Grundlage einer Gesellschaft, der Toleranz, Gleichberechtigung und Menschlichkeit nicht nur als stumpfe Plattitüden innewohnen.

[i] http://www.nohatespeechmovement.org/

[ii] http://assembly.coe.int/ASP/XRef/X2H-DW-XSL.asp?fileid=“21126&lang”=en