23. März 2015

Viereinhalb Jahre nach Ausstieg: Ein Hauch von Wiedergutmachung – Besuch im JZ Dorfen Neonazi-Szene, Aussteiger.

Teil einer nationalsozialistischen Ideologie gewesen zu sein. Das ist die eine Seite, die damit verbunden ist, dass ich einen Titel trage, der mit jedem neuen Tag etwas leichter, aber doch irgendwie auch etwas schwerer zu tragen ist.

Von Felix Benneckenstein

Am Anfang, direkt nach dem Ausstieg, war es mir das größte Anliegen, mich möglichst überall zu erklären, wo es nur geht. Endlich allen sagen können: „Das bin ich nicht mehr!“ Doch sehr schnell kamen vor allem die Details der Vergangenheit immer mehr ans Tageslicht.

Verantwortung für einzelne Taten übernehmen – das ist ein unumgehbarer Schritt im Ausstiegsprozess. Die Folgen für einen selbst sind teilweise wie eine Strafe: Depressionen, Schuldgefühle. Die Frage, ob das eigene Leben nicht einfach schon gelebt ist, man es gar für immer versaut hat. Es äußert sich bei mir u.a. in der Scham, die Orte zu besuchen, in denen ich mich damals so wichtig gemacht habe. Und den Menschen in die Augen zu sehen und die Hände zu schütteln, denen ich damals einfach nur schaden wollte und es auch viel zu oft getan habe. Es gab nicht wenige Tage, an denen es schwer fiel, überhaupt aus dem Haus zu gehen.

Ja, irgendwie habe ich mich „geil gefühlt“, wenn ich für Verunsicherung in der Gesellschaft sorgen konnte. Denn diese habe ich gehasst. Doch was ich damals unter „Gesellschaft“ verstanden habe, das hat überhaupt nichts mit der Gesellschaft gemein, in der ich heute auch im Großen und Ganzen sehr gerne lebe. „Die Gesellschaft“ und „das System“ waren für mich, wenn ich ehrlich bin, vor allem inszenierte und gerne angenommene Feindbilder, die mir eine Rechtfertigung gaben. Für mein eigenes Versagen. Für meine damalige, völlig selbstverschuldete Perspektivlosigkeit. Genau wie in der rassistischen Ideologie, in der es einen Rassisten einfach nicht interessiert, welches einzelne Schicksal hinter einer Abschiebung, hinter einer Flucht, hinter einer rassistisch motivierten Diskriminierung oder gar Gewalttat auf der Opferseite steckt, genauso wenig interessierte mich, dass diese Gesellschaft vor allem aus Individuen besteht. Der sichtbare „Feind“ war als Nazi stets der Gegenprotest. Die Antifa, „die Demokraten“. Also genau jene Menschen, die auch für mich heute ein Schutz sind. Menschen, die in ihrer Freizeit sich dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft offen, bunt und vielfältig funktionieren kann. Menschen, die aufklären – und Menschen, die auch unter einem gewissen Risiko dazu bereit sind, Nazis Steine in den Weg zu legen.

Das Jugendzentrum in Dorfen hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Als ich selbst noch Dorfener war, als Kind, im frühen Teenager-Alter, waren das ganz einfach „die Großen“. Ich erinnere mich, dass ich Basketball mit „den Juggi-Leuten“ spielen durfte, Streethockey, manchmal auf einer Skate-Anlage die ein oder andere Zigarette heimlich rauchte. Genau genommen waren die Menschen aus Dorfen mitunter die letzten, die meinen Weg damals noch positiv beeinflusst haben. Die heimlichen Zigaretten mal außen vor gelassen. Als ich nach Erding gezogen bin, änderte sich mein Umfeld, änderte sich meine Haltung, änderte sich mein Charakter in eine ganz eklige Richtung.

Als ich das nächste Mal nach Dorfen zurückkehrte, war ich ein Neonazi. Ich gehörte zu jenen NPD-Aktivisten, die am 20. November 2004 einen Infostand in Dorfen abhielten, oder besser gesagt: abhalten wollten. Der Infostand wurde heftig beantwortet. Ich weiß noch sehr genau, dass ich mir einen Kaffee holen ging – mal wieder war keinerlei bürgerliches Interesse an der Nazipropaganda vorhanden. Als ich wieder kam, machten die Flugblätter ihrem Namen alle Ehre: Der Wind wehte die Propaganda quer durch die Innenstadt. Der Stand stand nicht mehr. Aufgebrachte NPDler und Neonazis aus München erklären den zwischenzeitlich herbeigeeilte Polizisten, sie seien überfallen worden und die Täter seien „Richtung Jugendzentrum“ geflüchtet.

Ich war der einzige aus der Nazi-Gruppe, der eigentlich genau verstehen hätte müssen, warum Dorfen derart radikal reagiert: Neonazis wollten um die Jahrtausendwende das Jugendzentrum anzünden. Weil es dort irgendwie nicht funktionierte, wandte man sich dem Gemeindehaus zu, in dem zu dem Zeitpunkt vor allem damalige Sozialgeld-Empfänger und Menschen vor allem türkischer Herkunft wohnten. Der eigentliche Hauptfeind von Neonazis sind natürlich Menschen, die nicht-deutscher Herkunft sind. Sie zündeten das Haus an, in dem unter anderem einer meiner besten Schulfreunde wohnten. Nur durch viel Glück ist keinem etwas passiert.

Dieses Erlebnis rüttelte die Dorfener wach. Mich jedoch nur kurzzeitig. Als Reaktion auf den Infostand-Angriff wurden damals Aufmärsche in Dorfen organisiert. Hunderte von Polizeibeamten des USK ermöglichten, dass überhaupt marschiert werden konnte. Das bedeutet, wenn ich es einfach mal faktisch analysiere: Ich war mit Schuld daran, dass Dorfener Bürger wie Verbrecher behandelt wurden, weil sie einem neuerlichen Erstarken von Neonazis in ihrer Stadt entschlossen widersprochen haben.

Mit sehr einfachen Methoden konnte die Szene damals zumindest so tun, als hätte sie in Dorfen Einfluss. Der damalige NPD-Kreisvorsitzende und ich haben zum Beispiel Leserbriefe gefaked. An den „Dorfener Anzeiger“ schrieb man regelmäßig unter verschiedenen Namen, man hätte beispielsweise Probleme mit „Glasscherben in ganz Dorfen“, an denen „das JZ“ schuld sei. In der Realität sah es ganz anders aus. Einige wenige absolute Verlierer-Typen waren es nur, die ihren Hass auf das selbstverwaltete Jugendzentrum in Form von Sympathiebekundungen Richtung NPD und Kameradschaft München äußerten. Es ging vor allem also darum, den Menschen in Dorfen und besonders im Jugendzentrum das Leben möglichst schwer zu machen.

Klar, dass auch die Dorfener derartiges nicht vergessen, oder von einem Tag auf den anderen verzeihen können. 2012 gab es schon mal eine Veranstaltung mit mir in Dorfen. Es waren einige wenige (Vorstands-)Mitglieder von „Dorfen ist bunt“, denen ich damals im Gemeindehaus begegnen durfte. Schon damals durfte ich mich erklären. Doch es war eine merkwürdige Stimmung. Besonders am Anfang war deutlich zu spüren, dass eigentlich alle Beteiligten sich unwohl fühlten. Alle anderen, weil nun der Mensch vor ihnen sitzt, der einer der Hauptschuldigen für die etwa 3-jährige Tyrannisierung durch externe Neonazis ist. Und der damals zuletzt vor rund zwei Jahren noch als Neonazi aktiv war. Ich hatte erst wenige Monate vor dem Aufeinandertreffen meinen Ausstieg öffentlich erklärt. Es wurde im Laufe des Gespräches besser, aber dennoch schwebte damals ein übler Schatten darüber. Junge Menschen aus dem Jugendzentrum blieben der Veranstaltung damals fern. Ich war mir eigentlich sicher, dass das auch niemals anders werden wird. Dabei hatte und habe ich an so viele Menschen aus Dorfen positive Erinnerungen.

Das neuerliche Aufeinandertreffen mit Dorfen verlief ganz anders. Am vergangenen Montag, dem 16. März 2015, musste scheinbar niemand unter den teilnehmenden Menschen lange überredet werden, eine Aussprache mit mir abzuhalten. Vergessen war nichts, was damals passiert ist. Aber man kann es inzwischen einordnen. Auch ich, zumindest ein bisschen. Schon die Zugfahrt nach Dorfen war für mich dann sehr unangenehm. Ich freute mich sehr über die Einladung, aber ich habe mich auch mindestens ebenso sehr geschämt. Meine Frau hat mich begleitet. Man kommt nicht raus aus seiner Haut, das habe ich in den vergangenen Jahren mehrfach erfahren müssen. Aber die Offenheit dieser Menschen aus Dorfen machte es möglich, dass mir ein Moment gegeben wurde, in dem ich endlich Dinge aussprechen durfte, die mir so lange auf dem Herzen lagen. Der Raum war voll, ich wurde herzlich empfangen. Von Menschen, die mal meine Nachbarn waren und von Menschen, die ich inzwischen schon von Demonstrationen in München kenne, die ich dokumentiere. Sie stehen auf der Gegenseite der Neonazis. Bis heute.

Das Betreten dieses Gebäudes, der Schritt auf die provisorische Bühne – das Wissen, nun in genau dem Raum zu sein, dem ich so lange alles schlechte wünschte und der bis heute für Neonazis und Rechtspopulisten ein ganz beliebter Angriffspunkt ist. Immer wieder haben mir Besucher von Anfeindungen erzählt, denen das JZ und ihre Besucher ausgesetzt sind. Doch die absolute Mehrheit der Dorfener ist stolz auf dieses Stück Kultur. Auf einen Ort, der gut funktioniert. Jugendliche sitzen neben Stadträten und unterhalten sich über die Probleme der Welt, haben immer einen Anlaufpunkt. Nehmen an demokratischen Entwicklungen teil, protestieren, sind selbstbewusst. Recht viel besser kann eine Jugend sich nicht positionieren – und das in Dorfen seit vielen Jahrzehnten.

Alleine das Gefühl, in Dorfen ein Mikrofon in den Händen zu haben löste in mir einen Flashback aus. Einen sehr unschönen. Das letzte mal, als ich über Lautsprecher in Dorfen gesprochen habe, war auf der NPD-Demonstration, mutmaßlich 2006. Lange habe ich damals überlegt und an einem Pamphlet geschrieben, das ich in Dorfen dann vor Neonazis vortrug und in dem ich, soweit ich das noch weiß, vor allem behauptet habe, das JZ würde in Dorfen für bürgerkriegsähnliche Zustände sorgen. So weit weg von der Realität ist diese Aussage – und das habe ich vermutlich damals auch irgendwie gewusst. Inhaltlich vorbereitet hatte ich mich dieses Mal eigentlich überhaupt nicht – und doch irgendwie sehr intensiv.

Denn in meinem Kopf geht es schon sehr lange darum, was, wie und warum damals vor allem in Dorfen passieren konnte. Kein einziges Mal habe ich in mein Notizbuch gesehen und wenn doch, dann nur, um meine Anspannung zu verstecken. Dieses Mal setzte ich mich einfach hin und durfte berichten. Mir wurde zugehört, auf gleicher Augenhöhe im Anschluss diskutiert. Ich war gerührt von der Diskussion, von der Offenheit der Menschen und von der Einladung, im JZ „jederzeit willkommen“ zu sein. Ein Ort, der selbst Menschen wie mir verzeiht, der an jeder Form der Aussprache und Debatte interessiert ist.

Ich bin nach diesem Abend innerlich sehr glücklich gewesen. Gegenüber den Dorfenerinnen und Dorfenern war mein schlechtes Gewissen immer mit am schlimmsten. Doch ich wurde auch abermals auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen: Ganz diskret, am Rande, hat mich ein Mensch etwas gefragt. Er wurde vor Jahren in Erding durch Neonazis auf einem Flugblatt verunglimpft. Er fragte mich, ob ich daran beteiligt gewesen sei. Ich “müsse es ja nicht sagen“, es würde ihn „nur interessieren“. Ich gab eine Beteiligung zu, zunächst musste ich überlegen. Aber ich war nicht ganz ehrlich: Vermutlich war ich nicht nur beteiligt, vermutlich war ich es sogar alleine, oder es war zumindest meine persönliche Idee. Ganz genau weiß ich es tatsächlich nicht mehr und ob man so etwas öffentlich zugeben soll? Ja.

Diese Erfahrung war für mich ein sehr heftiger Moment. Dieser Mensch wurde von mir damals tyrannisiert und mein Ziel war es, ihn mit diesem Flyer maximal unter Druck zu setzen. Dies ist zwar laut Aussage des Betroffenen nicht wirklich gelungen, doch darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich teilweise nicht einmal mehr genau weiß, wem ich damals wie persönlich geschadet habe. Mit dieser Last umzugehen, das ist eine Phase, die jedem Aussteiger und jeder Aussteigerin (wenn sie per Definition eben solche sind) irgendwann einmal bevorsteht.

Ich kann allen Menschen in derartiger Situation – auch jenen, die vielleicht diesen Artikel lesen – nur raten, sich an Organisationen wie Exit- Deutschland oder zum Beispiel die Aussteigerhilfe Bayern e.V. zu wenden, denn dieser Schritt ist hart, aber er ist zu stemmen. Denn eines ist klar: Trotz eines weiteren Blickwinkels, der in meinem Kopf aufzuarbeiten ist, der nichts anderes bedeutet, als mit einer realen bitteren Vergangenheit auch weiterhin umgehen zu können, ging es mir nach dem Besuch in Dorfen sehr viel besser.

Ich war sicherlich auch irgendwie Opfer, wenn ich mit 12 Jahren schon mit Neonazi-Propaganda in Berührung kam, weil kaum jemand in meinem Umfeld dies reflektiert hat. Aber ich war aber eben auch und in erster Linie ein Täter. Eine Gesellschaft wie in Dorfen, in der selbst Menschen wie mir das Signal der Verzeihung entgegengebracht wird, darf durch nichts und niemanden gefährdet werden.

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