18. April 2013

Wer will schon in einem Nazistaat leben?

„Wer will schon in einem Nazistaat leben?“ – STERN, EXIT und jede Menge Prominenz sprechen in München über Nazigewalt

„Wer will denn schon in einem Nazistaat leben – außer Nazis natürlich?“ Diese Frage brachte einige Zuhörer zum Lachen. Sie stammt von Dr. Mehmet Daimagüler, einem der Vertreter der Nebenkläger im NSU-Prozess und Autor des Buches „Kein schöner Land in dieser Zeit — Das Märchen von der gescheiterten Integration“. Doch es steckte mehr dahinter, als ein kleiner Scherz am Rande. In München diskutierten am Abend des 17. April, anlässlich des geplanten Prozessauftaktes gegen den NSU, Prominenz, Journalisten und Nebenklagevertreter über „Nazigewalt“.

Von Felix Benneckenstein

München Stern Talk

Im gut gefüllten Saal des Münchner Rathauses — die Veranstalter sprechen von 200 Teilnehmern, war nicht nur die Frage ‘was tun’ sondern auch ‘wer kann was tun’ gegen Nazigewalt debattiert worden. Und Daimagüler machte klar, dass alle Menschen etwas tun sollten. Dass diese Veranstaltung am 17. April in München stattfindet, war kein Zufall. Eigentlich sollte an genau diesem Mittwoch in München dem rechten Terrornetzwerk NSU der Prozess gemacht werden. Dass der Prozess nun auf den 6. Mai verlegt wurde, brachte die Veranstalter jedoch keineswegs aus dem Konzept. „Prozesse können verschoben und verlegt werden, Probleme nicht,“ stellte Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) gleich in seiner Begrüßung klar.

Neonazismus, sogar rechter Terrorismus, sind auch in der bayerischen Landeshauptstadt omnipräsent: Zwischen dem Oktoberfestattentat in den 1980er Jahren und zweier Morde durch den NSU in München gab es immer wieder vereinzelte militante Aktionen, auch mit Schwerverletzten, auch mit Waffen- und Sprengstofffunden. Ude ist niemand, der sich diesem Problem verschließt. Er hat auch außerhalb dieser Veranstaltungen ein deutliches Auge auf rassistische Umtriebe in München: Mit der im Rathaus angesiedelten „Fachstelle gegen Rechtsextremismus“(FgR), die Infoveranstaltungen und Gegenproteste organisiert und welche die Öffentlichkeit laufend über rechte Aktivitäten in München informiert, machte Ude dieses Problem zur Chefsache – die FgR ist direkt dem OB unterstellt. Der Gründung der FgR ging jedoch voraus, dass seit 2007 der stellvertretende Bundesvorsitzende der NPD, Karl Richter, in München im Stadtrat sitzt. Zwar trat er über eine Tarnliste an, der Name ließ jedoch keinen Zweifel an der Gesinnung Richters: „Bürgerinitiative Ausländerstopp“. 1,4 % der Wähler hat das nicht davon abgehalten, ihn zu wählen. Genug für ein Mandat. Darauf hat die Stadt reagiert.

Konzertauftritt nur mit kugelsicherer Weste

Dass es nicht überall so läuft und schon gar nicht immer lief, machte EXIT- Chef Bernd Wagner deutlich: Er kennt das Umfeld des NSU ziemlich genau. Er hat die rechte Szene in der ehemaligen DDR, die es „in einem antifaschistischen Staat natürlich offiziell nicht geben durfte“ und aus welcher das NSU-Netzwerk stammt, vor, während und auch nach der Wiedervereinigung genau beobachtet und schon damals vor terroristischem Potenzial und vor allem einer breiten Unterschätzung dieses Milieus in der Bundesrepublik gewarnt. Für den Präsidenten des FC Bayern München, Uli Hoeneß, schien die direkte Konfrontation mit organisierten Neonazis Neuland gewesen zu sein. Doch Hoeneß ist engagiert und machte auch klar, dass ihm derartiges Engagement sehr wichtig ist und, dass man es auch beim FC Bayern sehr ernst nehmen würde. Auch sich selbst nahm er in die Pflicht: „Man kann immer mehr tun.“ Hoeneß musste die zweistündige Veranstaltung zur Halbzeit verlassen. Er hatte noch einen anderen Termin. Auch Musiker Peter Maffay, der in vielerlei Hinsicht stark engagiert ist — von Auftritten bei Konzerten gegen Rechts bis hin zu Finanzierung und Leitung von Kinderheimen lebt er Zivilcourage selbst vor – sieht sich ganz selbstverständlich auch persönlich in der Pflicht: „Ich habe einen neunjährigen Sohn. Und ich möchte, dass dieser in einem Land aufwächst, indem jeder sich frei entfalten darf. Egal, welcher Herkunft derjenige ist.“. Maffay berichtete, dass er bei einem Auftritt gegen Rechts in Jena eine kugelsichere Weste tragen musste – das war eine Auflage der Behörden. Er vermisse auch „ein starkes Signal der Politik“. Damit lenkte er gleich in eine entscheidende Frage ein.
Gefährliche Einzelfälle: Nazis im Staatsdienst

Was tut ‘der Staat’ / ‘die Polizei’, gegen Rechtsextremismus? „Gibt es Sympathisanten in den Apparaten?“ fragte Moderator und STERN — Chefredakteur Hans-Ulrich Jörges gezielt Bernd Wagner. Wagner hat nicht nur über Aussteiger stets einen Überblick darüber, wo die Unterstützer der Neonazis sitzen. Wagner hat selbst jahrelang als Polizeibeamter gearbeitet, auch in leitender Funktion. „Ja, die gibt es“ sagte Wagner zunächst trocken und sicher. Dann holte er aus: „Es gibt Antisemiten und Rassisten in den Apparaten.“ An dieser Stelle war es Wagner aber wichtig, zu differenzieren und nicht zu pauschalisieren. „Wir sprechen da nicht von Massen an Menschen, es sind ganz wenige“, aber es gibt sie eben: Neonazis oder Rassisten, deren Arbeitgeber der Staat ist und die über Zugriffe auf Dienstcomputer und Unmengen an vertraulichen Daten verfügen — und damit theoretisch sogenannte Anti-Antifa-Arbeit betreiben können, also Nazigegner, Migranten oder Aussteiger auf diesem Wege durchaus ausspionieren können, theoretisch Einblicke in laufende Ermittlungen haben und unter Umständen sogar an politischen Entscheidungen beteiligt sein können. Zwar sei dies eine absolute Minderheit, auch bei der Polizei — die Gefahr, die von diesen Einzelpersonen ausgeht, sei jedoch enorm.

Führerloser Widerstand = Partisanenkrieg gegen die Demokratie

Wenig Verständnis äußert Wagner noch immer für die mangelnde Sensibilität im Umgang mit Neonazis, für die jahrzehntelange Unterschätzung neonazistischer terroristischer Ambitionen. Intensive Recherchen seien gar nicht nötig gewesen, um diese Gefahr auch zu erkennen: Seit Jahrzehnten ruft die rechte Szene offen zu einem „führerlosen Widerstand“ auf. „Und führerloser Widerstand ist nichts anderes als ein Partisanenkrieg gegen die Demokratie!“, erklärte Wagner. Moderator Jörges schien ebenfalls sehr gut informiert zu sein. Über Dimensionen und Vielfalt extrem rechter Agitation. Angesichts der Tatsache, dass auch die meisten Opfer des NSU Muslime waren, warnte Jörges selbst vor einer echten ‘Neuen Rechten’. „Antiislamismus ist an die Stelle des Antisemitismus getreten!“, so Jörges. Die kürzlich durch den bayerischen Innenminister angeordnete Überwachung der Gruppierungen ‘Die Freiheit Bayern’ und einer ‘Ortsgruppe München’ der Website ‘PI-News’ sei längst überfällig gewesen. „Auf PI wird systematisch gegen Muslime gehetzt“, stellte er fest. Hier war die Diskussionsrunde bei einer weiteren Dimension rechter Agitation angekommen: Der vermeintlich ‘bürgerlichen Mitte’. Wenn Parolen wie „das Boot ist voll“ von ganz oben vorgegeben werden, „brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn dann so etwas passiert!“, kritisierte Rechtsanwalt Daimagüler.

Ermittlungspannen um den NSU — Noch immer fehlen die Worte

Der NSU hat Verunsicherung gestreut, dies wurde auch an diesem Abend deutlich. Zehn Jahre lang konnten Neonazis, die schon vor ihren Morden zur Fahndung ausgeschrieben und den Behörden als Rechtsterroristen bekannt waren, im direkten Umfeld ihrer gewohnten Umgebung offensichtlich unbehelligt agieren. Sie nahmen Menschen das Leben, hinterließen unglaublichen Schaden bei den Angehörigen — und die Ermittlungsbehörden, welche die Gemeinsamkeit ‘Migrationshintergrund’ bei den Opfern sehr wohl erkannt haben, leiteten daraus die logische Konsequenz, dass die Täter auch „bei den Migranten“ zu suchen seien.

Khubaib-Ali Mohammed, ein weiterer Anwalt der Nebenkläger im NSU-Prozess, thematisierte vor allem die Bombenanschläge des NSU in Köln. Diese werden in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer unterschätzt, dabei hätten auch dort durchaus Menschen sterben können, vielleicht sogar sollen: Mohammed hat Einblicke in die Ermittlungsakten und sagt, die Bomben wären sicherlich auch zur Tötung von Menschen gelegt worden. Die Konstruktion der Sprengsätze zeige, dass dort „die maximale Anzahl an Schaden für Menschen“ in Kauf genommen worden sei. Er führte aus, wie viele seiner heutigen Mandanten die Ermittler damals darauf aufmerksam machten, dass sie einen rassistischen Hintergrund vermuten. Die Ermittler haben auf diese Hinweise mit Gegenfragen wie „Wie sieht es denn hier mit Schutzgeld aus?“, „Wie läuft das hier, mit Drogengeschäften?“ reagiert. Der Spur wurde, wie wir heute wissen, nie wirklich nachgegangen. Obwohl nicht wenige Indizien für einen rassistischen Hintergrund sprachen.

So wurde es auch ein Abend sehr harter und ehrlicher Selbstkritik. Exit- Chef Wagner sagte, dass vielleicht auch er „stärker hätte vorgehen müssen“, also noch intensiver und noch lauter öffentlich die Unterschätzung von Neonazis in der wiedervereinten Bundesrepublik hätte anprangern müssen, um die Öffentlichkeit noch mehr auf diese gefährlichen Entwicklungen in der rechten Szene zu sensibilisieren. Und auch Moderator Jörges nahm als Moderator und STERN- Chefredakteur sich selbst, seine Kollegen und gar die ganze Medienbranche mit in die Verantwortung: „Wie sieht es mit uns aus, mit den Medien?“, „Haben wir wirklich genug getan?“
Ausstieg als Perspektive

Einen weiteren Aspekt bekam die Arbeit mit Aussteigern aus der rechten Szene. Die Veranstaltung in München wurde von Daimler finanziert. „Das ist sicher kein Thema, bei dem man günstig Werbung machen kann“, lobte Jörges das Engagement des Konzernes. Er nahm auch die Betriebe tiefer in die Pflicht: „Wir müssen Aussteigern eine Zukunftsperspektive geben, sie wieder in die Gesellschaft integrieren“. Wagner erklärte dann auf die Frage, wie gefährlich so ein Ausstieg denn nun sei, dass es „nicht immer so spannend ist, wie viele sich das vorstellen“. Das jedoch jeder Ausstieg mit Problemen verbunden ist, stellte er ebenso klar denn: „Jede und jeder muss sich irgendwann bekennen: Auf welcher Seite stehe ich?“. Und spätestens hier würden immer Probleme auftreten. Mit den früheren Kameraden, sogar Freunden. Die Gefahrenlagen seien in den Einzelfällen stark unterschiedlich, sie gehen von nur bedingt vorhanden, bis hin zu einer regelrechten „Zielfahnder-Methodik“, welche die alten Kameraden anwenden, also, dass Neonazis ihre ehemaligen Mitstreiter gezielt suchen, aufspüren und ausspionieren. Hier bestehe natürlich auch Gefahr für Leib und Leben, denn, so Wagner: „Wir haben es ja hier nicht mit Leuten zu tun, die mit 14 Jahren mal die falsche Musik gehört haben“.

Der Rassismus der Mitte — oftmals unterschätzt

Wie weit Rassismus in den Alltag geht, machte Hatice Akyün an ihrem eigenen Beispiel deutlich. Die Kolumnistin des TAGESSPIEGEL sieht sich bei ganz normalen Artikeln häufig Beleidigungen mit rassistischem Hintergrund ausgesetzt. So werde ihr nicht selten nahegelegt, doch nicht über Deutschland, sondern „über ihre Heimat“ zu schreiben. Ihre Heimat ist Deutschland. Der Name jedoch sticht ins Auge und macht den Migrationshintergrund Akyüns für alle Leserinnen und Leser sichtbar.

Dass Viele sich schon an einem Namen, der vermeintlich ‘fremd’ klingen mag, stören, zeigt: Es gibt noch einiges zu tun in unserem Land, in unserer Gesellschaft, in den Behörden, Unternehmen und Verbänden. Denn: Wer will schon in einem Nazistaat leben?

Foto: Felix Benneckenstein