Rückblick 2019
Zwischen Existenzkampf, Alltagstrubel und Erfolgsmeldungen: Ein (unvollständiger) Rückblick auf 2019
Befragt man jetzt – Anfang Januar 2020 – das EXIT-Team, was es im vergangenen Jahr am meisten beschäftigte, herrscht Einigkeit: Der institutionelle Überlebenskampf, das drohende Aus der Förderung. Tatsächlich dauerte diese bedrohliche Situation beinahe die Hälfte des Jahres an und war mit unglaublich viel Mehraufwand für das Team verbunden – auf lange Sicht jedoch werden andere Dinge im Gedächtnis bleiben, etwa Erfolgsmeldungen und Weichenstellungen, Tattoo-Entfernungen von teils langjährigen Klienten, der weitere Ausbau des Netzwerkes oder eben erfolgreich abgeschlossene Ausstiege aus der rechtsradikalen Lebens- und Gedankenwelt.
Rückendeckung aus allen Bereichen der Gesellschaft – EXIT sagt Danke!
Als im späten Oktober endlich die Nachricht überbracht werden konnte, dass es nun doch weitergeht, war niemandem nach Feiern zumute, denn einiges musste aufgearbeitet werden. Neue Fälle in der Ausstiegsarbeit konnten zeitweise nur bedingt angenommen werden, einige mussten wir ablehnen. Anfragen für Jahr 2020 konnten nur unter Vorbehalt oder mit einer Absage beantwortet werden. Es war nicht nur ein Marathon, sondern viele, den die Kollegen in Fallbetreuung und Verwaltung zurücklegten.
Die Förderungskrise bestimmte zeitweise auch das Außenbild von EXIT-Deutschland, viele Berichte standen an und die Arbeit von EXIT wurde diskutiert. Dadurch erreichte unser Team eine überwältigende Menge an Solidaritätsbekundungen und geäußerter Wertschätzung aus allen erdenklichen Bereichen der Gesellschaft. Auch in der großen Politik gab es dabei Allianzen, die nicht bei jedem Thema so entstehen würden: Grünen-Urgestein und Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth bezeichnete ein drohendes Ende unserer Arbeit als „völlig irre“, während der ehemalige Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen Bundestages Wolfgang Bosbach die Attribute „unverständlich“ und „unverantwortlich“ ins Spiel brachte.
Etwa 50 Veranstaltungen fanden 2019 unter direkter Beteiligung von EXIT-Deutschland statt. Parallel standen erneut einzelne Klienten, Mitarbeiter und Projektbegleiter laufend u.a. am Rande von Podiumsdiskussionen Rede und Antwort zum Themenfeld Deradikalisierung bzw. Ausstieg aus der Neonaziszene. Zu den gezählten Veranstaltungen zählt beispielhaft auch die Fortführung der Serie EXIT-Salon, dieses Mal in Kooperation mit dem Architekturbüro Metagrey.
Theater, Spielfilm, Dokus
Medial kamen neben Berichten über die aktuelle Situation auch teils lange geplante Projekte zum Abschluss, wie etwa die Ausstellung SKIN- unter die Haut, über die unter Anderem das ZDF-Magazin ASPEKTE berichtete. Mitten in der Debatte um Rechtsradikalismus bei der Bundeswehr unterstützten wir zudem einen mehrseitigen Hochglanzbericht im Bundeswehr-Magazin „Y mit den Schwerpunkten Rechtsrock, Radikalisierung und Ausstieg.
Dem Theaterstück Mütter und Söhne gingen viele intensive Gespräche mit der Regisseurin Karen Breece und einzelnen Schauspielern voraus. Es behandelt zwei verschiedene – an realen Ereignissen orientierte – Biografien, die sich im Rechtsradikalismus abspielten. Das Stück verdeutlicht unter Anderem, welche Auswirkungen Radikalisierung auf den Alltag einer Familie hat, in der ein Jugendlicher zum Neonazi wird.
Ebenfalls vor allem der Frage „warum wird ein junger Mensch gefährlich radikal?“ geht der SWR-Dokumentarfilm „Hassjünger“ nach, der die – auf den zweiten Blick ähnlicher als man denken könnte verlaufenen – Biografien des EX-Salafisten Dominik Schmitz, bzw. des EX-Neonazis und heutigem EXIT-Mitarbeiter Felix Benneckenstein parallel erzählt. Er dauert 60 Minuten und wurde vor der TV-Ausstrahlung bereits am Rande von Filmfestivals und themenbezogenen Veranstaltungen gezeigt, inzwischen ist er in der ARD-Mediathek zu finden.
Der Spielfilm SKIN kam im Oktober in die deutschen Kinos und wurde vor allem in der Anlaufphase durch das EXIT-Team begleitet und beworben. Rund um die deutschsprachige Premiere des Filmes in Berlin gab es Veranstaltungen mit Podiumsdiskussionen in ganz Deutschland, bei denen häufig EXIT-Mitarbeiter und Klienten zu Gast waren.
Abteilung Kurios: Mega-Events, Fußball und spendable Neonazis
Es gibt Veranstaltungen, die haben auf dem ersten Blick relativ wenig mit Deradikalisierung und Ausstiegsarbeit zu tun – wie etwa die „Internationale Funkausstellung“ in Berlin, bei der EXIT-Mitarbeiter Fabian Wichmann vor allem die Initiativen #Hasshilft bzw. RechtsgegenRechts vorstellen durfte. Apropos: Am 08. Mai wurden wieder unfreiwillig Spenden erlaufen. Mehr als 4.000 Euro Spenden konnten so freigegeben werden und Demmin setze ein deutliches Zeichen gegen Rechtsextremismus und Geschichtsverklitterung.
Eine weitere – nicht alltägliche – Einladung folgte von FRITZ-KOLA. Man hörte auch im Norden der Republik von unseren Finanzierungs-Problemen und nutzte als Sponsor das Spiel des FC St.Pauli gegen den Karlsruher SC für eine groß angelegte Spendenaktion. Immer wieder wurden auf Videoleinwand und LED-Werbebanden am Spielfeldrand Slogans wie „Ausstieg heißt Aufstieg!“ präsentiert und entsprechend eingeordnet. Nach dem Spiel gab Fritz-Kola eine Runde aus – gegen Spende für EXIT. Prost.
Ebenfalls in diese Kategorie passt die Einladung zum Festival Pol’and’rock- Festival in Kostrzyn nad Odrą (Polen), wo zwischen Livemusik, Getränken und Merchandising ein EXIT-Infostand aufgebaut wurde. Darüber hinaus lassen sich im EXIT-Archiv einige Presse- und Veranstaltungsberichte finden.
Internationaler Austausch, Fallzahlen, Standards
EXIT-Deutschland konnte seine Standards weiterentwickeln und speziell im Bereich Risikobewertung einen neuen Ansatz entwickeln, der das Case-Management zukünftig ergänzen wird. Das dazu entwickelte Tool SADeRa (Strukturierungshilfe zur Analyse von (De)Radikalisierungsprozessen) unterstützt den Berater dabei, Fallinformationen zu strukturieren, begründete Aussagen über Radikalität und Gefährdung zu treffen sowie Maßnahmen für die Fallberatung abzuleiten und ermöglicht ihm so mehr Handlungs- und Kommunikationssicherheit. SADeRa ist für die Beratungspraxis konzipiert und an den Ressourcen und Risiken der Beratungsnehmer orientiert. SADeRa wurde in Zusammenarbeit mit HAYAT-Deutschland, DNE-Deutschland und EXIT-Deutschland entwickelt und befindet sich aktuell in der Beta-Phase.
Immer wieder kam es länderübergreifend zu einem Fachaustausch mit EXIT-Mitarbeitern, die unter anderem auf Einladung in den Niederlanden, der Tschechischen Republik, Spanien und Schweden referierten. Hierbei konnten vielversprechende Kontakte geknüpft und Lösungsansätze erarbeiten werden, die uns in den kommenden Jahren noch hilfreich in der Auseinandersetzung mit Deradikalisierung sein können.
Fakt ist
Seit Gründung im Jahre 2000 konnten durch EXIT-Deutschland 763 Personen beim Ausstieg aus rechtsextremen Zusammenhängen unterstützt werden. Der Großteil der Fälle, ca. 60%, wurde in einem Zeitraum zwischen zwei und drei Jahren begleitet. 30% konnten in drei bis fünf Jahren erfolgreich abgeschlossen werden, bei 10% lag bzw. liegt der Betreuungszeitraum bei fünf Jahren und mehr. 36 Kontaktaufnahmen erreichten uns aus dem Justizvollzug. Der Frauenanteil liegt bei rund 20 Prozent. Kinder sind beständig direkt und indirekt mit betroffen. Das betrifft über die Jahre einen Anteil von etwa 20 Prozent der Fälle. Die Personen kommen aus militanten rechtsextremen Gruppen, die sich einem modernisierten Nationalsozialismus zugewendet hatten und in Gewaltprozesse gegen erklärte ideologisch-politische Feinde verstrickt waren.
Wir sagen an dieser Stelle nochmals DANKE!!! an alle Spenderinnen und Spender für die großartige Unterstützung 2019. Ohne die Unterstützung und die Spenden hätten wir die Zeit der Unsicherheit nicht überstanden. Sie waren die wichtigste Stütze, die verhindert hat, dass wir EXIT-Deutschland hätten abwicklen müssen. Die Spenden ermöglichen uns, die Arbeit von EXIT-Deutschland überhaupt und im erforderlichen Umfang umzusetzen. Überhaupt – weil wir für die Förderung des BMFSFJ eine Kofinanzierung von 10 % aufbringen müssen und im erforderlichen Umfang – weil die Förderung nur eine Grundsicherung darstellt, die den notwendigen Bedarf und alle anfallenden Kosten nicht abdeckt. Wir haben eine Förderzusage für den Zeitraum 2020-2022 in Höhe von jährlich 225.000 € bei jeweils jährlicher Neubeantragung. Für 2022 hoffen wir auf den rechtzeitigen, erforderlichen Weitblick der Politik. Spenden bleiben daneben die wichtigste Voraussetzung.
Jetzt gilt es vorwärts zu schauen, vorwärts in unser Jubiläumsjahr. Wir feiern unser 20-jähriges Bestehen und haben noch die eine oder andere Überraschung in diesem Zusammenhang parat.